Stolpersteine in Soltau - Erinnerungsort in der Marktstraße 8

StolpersteineWas geschah am 10. November 1938 in der Marktstraße 8?

„Jude verrecke!“ – mit diesen Rufen begann am Morgen des 10. November 1938 in der Soltauer Markstraße 8 ein Pogrom, der das Leben der jüdischen Familien Lennhoff und Feilmann für immer veränderte. Vor dem Textilwarengeschäft von Sally Lennhoff versammelten sich Soltauer SA-Verbände und zahlreiche Schaulustige. Steine flogen, Schaufensterscheiben zerbarsten, Rauchbomben wurden in das Haus geworfen. Unter dem Johlen der Menge – „Hallo, die Synagoge brennt, der Jude Sally Lennhoff steht im Hemd!“ – stürmten Männer das Gebäude, warfen Möbel, Kleidung und Hausrat auf die Straße.

Die neunjährige Ursula Feilmann erlebte all das unmittelbar mit. Ihr Großvater, Sally Lennhoff, und ihr Vater, Harry Feilmann, wurden unter Knüppelhieben abgeführt – der Gang durch die dichtgedrängte Menschenmenge war ein Spießrutenlauf.

Im Deutschen Reich begannen die Novemberpogrome in der Nacht vom 9./10. November, in ländlichen Gebieten vielfach erst am Vormittag des 10. November 1938. In Soltau wurde an diesem Tag die Lebens- und Existenzgrundlage der Familien Lennhoff und Feilmann zerstört. Familienmitglieder wurden in sogenannte Schutzhaft genommen und schließlich sämtlich aus Soltau vertrieben.

Erinnerungsort

Die Stadt Soltau erinnert heute an dieses Kapitel ihrer Geschichte: Vor dem ehemaligen Textilwarengeschäft ist ein Erinnerungsort entstanden. Am 6. November 2025 wurden dort sieben Stolpersteine für die Familienmitglieder verlegt. In einem zweiten Schritt folgen Erinnerungstafeln, die das Geschehen dauerhaft im Stadtbild sichtbar machen sollen.

Auf dieser Seite finden Sie zudem kurz und knappe aber auch präzise und ausführliche Biografien der Familienmitglieder, die an das Leben und Schicksal der Lennhoffs und Feilmanns in Soltau erinnern.

Simon „Sally“ Lennhoff

Ida und Simon Lennhoff ca.1930Simon, genannt Sally, Lennhoff wurde am 4. Dezember 1871 in Plettenberg/Altena geboren. Ab dem 1. Oktober 1899 war er in Soltau gemeldet – als Kaufmann im Haus Marktstraße 8. Er heiratete am 6. März 1900 Ida Rosenbach. Das Ehepaar bekam zwei Töchter: Paula am 30. September 1900 und Selma am 12. September 1901.

Sally Lennhoff führte ein Manufaktur- und Textilgeschäft. Die Firma entwickelte sich so gut, dass auch beide Töchter und der Schweigersohn Harry Feilmann dort mitarbeiteten. Bereits in der Weimarer Republik nahm der Antijudaismus zu: Am 10. Oktober 1921 wurden die Schaufenster des Ladengeschäftes mit Karbolineum beschmiert.

Am 1. April 1933 postierten sich SA-Männer vor dem Geschäft und verhinderten, dass Soltauer bei Lennhoffs einkauften. 1937 waren Lennhoffs, Feilmanns sowie Emma Rosenbach die einzigen (sieben) jüdischen Bürger Soltaus. Am 10. November 1938 stürmten SA-Verbände und Bürger das Geschäft und die Wohnung. Sie zerstörten Schaufenster, und Inventar, raubten und plünderten die Waren, demolierten die Wohnung. Sally und sein Schwiegersohn kamen in „Schutzhaft“. Ein Zwangsverkauf seines Grundstückes und Geschäftes unter Wert folgte.

Ab Januar 1939 wohnten das Ehepaar Lennhoff und Tochter Selma in Bremen. Selma wanderte im April 1939 nach Großbritannien aus. Ausreiseversuche in den Jahren 1940/1941 scheiterten. Im August 1941 erfolgte der Zwangsumzug in insgesamt zwei „Judenhäuser“; am 24. Juli 1942 die Deportation in das Ghetto Theresienstadt. Dort starb Sally Lennhoff am 27. November 1943 im Alter von 72 Jahren.

Foto: Privatarchiv S. Sasso

⇒ Biografie Simon Sally Lennhoff

Ida `Henny´ Lennhoff, geb. Rosenbach

Ida Lennhoff in jungen JahrenIda, genannt „Henny“, Lennhoff wurde am 28.3.1875 in Langwedel/Verden geboren. Sie heiratete am 6.3.1900 den Soltauer Kaufmann Simon „Sally“ Lennhoff. Im September 1900 kam ihre Tochter Paula zu Welt, ein Jahr später, am 12.9.1901, ihre Tochter, Selma. 1929 wurde Ida Lennhoff Großmutter: Ursula blieb das einzige Kind von Paula und Harry Feilmann.

An welchem Ort Ida Lennhoff, ihre Töchter und Enkelin Ursula nach der Verwüstung und Plünderung der Geschäfts- und Wohnräume in der Marktstraße 8 im Zuge des Pogroms vom 10. November 1938 Unterschlupf fanden, konnte bisher nicht ermittelt werden.

Das Ehepaar Lennhoff wurde im Juli 1942 von Bremen in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Im Mai 1943 musste Ida Lennhoff dort der untere rechte Arm amputiert werden. Das führte zu einer Zurückstellung von einem der Todestransporte nach Auschwitz. Im Gegensatz zu ihrem Mann überlebte sie die Haft, was angesichts der Transporte, der mangelhaften Versorgungslage und der Epidemien einem Wunder gleicht. Mittellos, zunächst ohne Kontakt zu Kindern oder Verwandten kehrte sie nach der Befreiung im Alter von 70 Jahren nach Soltau zurück. Sie wohnte in ihrem ehemaligen Haus, Marktstraße 8. Dort ließ die Stadt eine Unterkunft für sie herrichten.

Ida Lennhoff verließ Europa am 11. September 1947 – im Alter von 72 Jahren mit dem Ziel Milwaukee/Wisconsin, dem Wohnsitz ihrer Tochter Paula Feilmann. Erst ab Juli 1953 erfolgten äußerst geringe Entschädigungszahlungen. Im Alter von 80 Jahren verstarb Ida Lennhoff 1955.

Foto: Privatarchiv S. Sasso

⇒ Biografie Ida `Henny´ Lennhoff

Paula Feilmann, geborene Lennhoff

Paula Lennhoff als junge FrauPaula Lennhoff wurde am 30. September 1900 in eine bürgerliche Soltauer Familie des Kaiserreichs geboren; sie geht auf die Höhere Privatschule in Soltau (Gymnasium). In den 1920er Jahren ist sie im Textil- und Bekleidungsgeschäft ihrer Eltern, Simon „Sally“ und Ida „Henny“ Lennhoff, in der Soltauer Marktstraße 8 beschäftigt.

Am 10. August 1928 heiratete sie Harry Feilmann, einen Kaufmann aus Jever. Knapp ein Jahr später, am 5. Juni 1929, wurde Tochter Ursula geboren. Nach dem Pogrom am 10. November 1938 schaffte es Harry Feilmann als erster in die USA. Weder Paula Feilmann noch ihre Tochter Ursula verfügten über ein Visum in die USA, sodass Ursula im Dezember 1938 mit einem Kindertransport in die Niederlande geschickt wurde. Paula aber gelang es, Papiere für die USA zu bekommen, und im November 1939 erreichten Mutter und Tochter auf der „Rotterdam“ New York. In Milwaukee/Wisconsin war die Familie wieder vereint. Seit dem 29. November 1945 war Paula Feilmann amerikanische Staatsbürgerin. Ihr Ehemann starb bereits am 10. Juni 1946.

1950 wohnte Paula Feilmann zusammen mit ihrer Tochter Ursula, ihrer Schwester Selma und ihrer Mutter Ida Lennhoff. Die Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden über eine angemessene finanzielle Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts sollten sich über Jahrzehnte hinziehen. Die Vertreibung, der Verlust der Angehörigen und der endlose Streit mit Behörden und Gerichten beeinträchtigten Paulas Gesundheit; sie starb im Alter von 67 Jahren.

Foto: Privatarchiv S. Sasso

⇒ Biografie Paula Feilmann

Harry Feilmann

Harry Feilmann (1938)Harry Feilmann war der jüngste Sohn von Nanny und Isaak Ley Feilmann. Der Vater war in Jever wie viele seiner Vorfahren Viehhändler und Schlachter. Geboren am 29. Januar 1891 heiratete Harry Feilmann am 10. August 1928 die in Soltau geborene Paula Lennhoff. Vermutlich arbeitete er in dem Geschäft seiner Schwiegereltern in Soltau oder in dem zweiten Geschäft in Munster als Textilkaufmann, zumal er inoffiziell als Miteigentümer galt. Am 5. Juni 1929 bekamen Harry und Paula Feilmann eine Tochter, Ursula. Die junge Familie lebte in Soltau zunächst in der Lüneburger Str. 57 und zog schließlich 1935 bis 1938 zu den (Schwieger-)Eltern in die Marktstraße 8.

Die Entscheidung, Soltau für immer zu verlassen, fiel im August 1938. Nach der Reichspogromnacht wurde Harry Feilmann – wie sein Schwiegervater – in „Schutzhaft“ genommen und im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert (12.-17. November 1938). Trotzdem gelang es ihm, am 26. Januar 1939 per Schiff New York zu erreichen. Frau und Tochter kamen im Dezember 1939 nach. Er fand eine Anstellung als Arbeiter in einer Lederfabrik.

Bruder, Schwägerin, Mutter und Schwiegereltern waren „Gefangene“ im NS-Staat. Nur die Schwiegermutter Ida Lennhoff überlebte; sie emigrierte 1947 zu ihren Töchtern. Den Schwiegersohn traf sie dort nicht mehr an. Im Alter von 55 Jahren, am 10. Juni 1946, verstarb Harry in Milwaukee nach einem Herzinfarkt.

Foto: Privatarchiv S. Sasso

⇒ Biografie Harry Feilmann

Ursula Rae Sasso geb. Feilmann

Ursula Feilmann als Kind -1930er JahreUrsula Rae Sasso wurde am 5. Juni 1929 in der Lüneburger Straße 57 in Soltau als Ursula Feilmann geboren; ihre Eltern waren Harry und Paula Feilmann. Ursula Feilmann besuchte die Freudenthalschule in der Mühlenstraße. Ausgrenzung und Repressionen nahmen zu: Ihr Zuhause wurde im Mai 1933 von der Polizei durchsucht. 1938 zerstörte das Soltauer Pogrom die Lebensgrundlage der Familie Feilmann. Für Ursula das Trauma ihres Lebens. „An diesem 10. November endete meine Kindheit“, berichtete sie 2013 in einem Interview.

Bereits im Sommer 1938 hatten Ursulas Eltern beschlossen, dass der Vater allein in die USA auswandern sollte. Tochter Ursula und Ehefrau Paula sollten so schnell wie möglich nachkommen. Um Ursula in Sicherheit zu bringen, entschlossen sich die Eltern zur Trennung der Familie. Im Dezember 1938 konnte Ursula mit einem Kindertransport Deutschland verlassen. Sie kam zunächst in ein holländisches Heim für jüdische Flüchtlingskinder. Ende August 1939 gelang es, die notwendigen Papiere für die USA zu besorgen.

Ursula Rae Sasso, ca. 2005In Milwaukee begann Harry Feilmann mit seiner Familie ein neues Leben. Bildung war der Schlüssel: Ursula Feilmann machte ihr College-Examen und wurde Bibliothekarin. Ihren zukünftigen Mann Irvin Sasso, einen Luft- und Raumfahrttechniker, lernte sie 1952 kennen. Sie hatten vier Kinder und lebten in Milwaukee, ab 1967 in San Diego. Aus dem kleinen Soltauer Mädchen war eine unabhängige US-amerikanische Frau geworden – aktiv und engagiert. Ursula Feilmann starb im Alter von 88 Jahren, am 8. August 2017.

⇒ Biografie Ursula Rae Sasso

Selma Leiser geb. Lennhoff

Selma Lennhoff als junge Frau ca. 1935Selma Lennhoff, geboren 12. September 1901 in Soltau, war die zweite Tochter von Simon „Sally“ und Ida „Henny“ Lennhoff. Sie besuchte wie ihre ein Jahr ältere Schwester Paula die Freudenthal-Schule und ebenfalls die Höhere Privatschule in Soltau. Anschließend arbeitete sie im Manufaktur- und Textilgeschäft ihres Vaters.

Am Vormittag des 10. November 1938 stürmten Soltauer Bürger und SA-Verbände das Geschäft und die Wohnräume der Lennhoffs in der Marktstraße 8. Im April 1939 gelang Selma Lennhoff die Ausreise nach Großbritannien. Erst im Juli 1946 erfolgte die Weiterreise: Per Schiff erreichte sie am 5. August 1946 New York. Sie zog nach Milwaukee zu ihrer Nichte Ursula und Schwester Paula, deren Ehemann Harry Feilmann gerade verstorben war. Die 1950er und 60er Jahre waren für Selma Lennhoff und ihre Schwester Paula geprägt von Anträgen an sowie Prozessen gegen deutsche Behörden. Wiedergutmachung und Entschädigung erhielten auch sie – wie ihre Mutter Ida – lediglich in bescheidenem Umfang.

1958 fand Selma ihr spätes Glück: Im Alter von 57 Jahren heiratete sie den Witwer Benjamin (Bruno) Leiser. Ihm gelang 1940 die Flucht aus Deutschland mit seinem 15-jährigen Sohn Werner über Yokohama/Japan nach San Francisco/USA. Seine Ehefrau Else und seine Tochter Helga blieben in Deutschland und überlebten Deportation und Inhaftierung nicht. Selma und Bruno Leiser zogen nach New York, sie hatten keine Kinder. Im Mai 1973 verstarb Bruno Leiser im Alter von 80 Jahren; Selma im Alter von 83 Jahren 1984.

Foto: Privatarchiv S. Sasso

⇒ Biografie Selma Leiser

Emma Rosenbach

Portrait-Ausschnitt von Emma RosenbachEmma Rosenbach wurde am 20. August 1884 in Langwedel geboren. Ihre Eltern waren der Schlachter Friedrich Rosenbach und Sophia Rosenbach, geb. Moses. Mit ihren zwei Geschwistern – dem älteren Bruder, Moses ‚Adolf’ Rosenbach und ihrer Schwester, Ida `Henny´ Rosenbach – wuchs sie in Langwedel/Bremen auf. Emma Rosenbach blieb ledig und wohnte in den 1930er Jahren im Haushalt ihrer neun Jahre älteren Schwester Ida Lennhoff, Soltau, Marktstraße 8, die den jüdischen Kaufmann Sally Lennhoff geheiratet hatte.

Nach dem Soltauer Pogrom zog Emma Rosenbach am 3. Februar 1939 nach Verden, an den Wohnort ihres Bruders, Adolf Rosenbach. Sie wohnte dort bei der Familie Spanier. Deren Haus wurde im April 1939 von der Stadt zum „Judenhaus“ erklärt, so dass 1941 dort acht Juden lebten. Gemeinsam mit 20 anderen jüdischen Verdenerinnen und Verdenern erhielt Emma Rosenbach den Deportationsbefehl für den 17. November ab Verden und den 18. November 1941 ab Bremen zum „geschlossenen Arbeitseinsatz“ in Minsk. Sie wurde dort in der Zeit vom 28. bis 29. Juli 1942 liquidiert. Das genaue Todesdatum ist nicht bekannt.

Foto: Silberhochzeit von Schwester Ida Lennhoff und Sally Lennhoff, 1925. Emma steht hinter dem Silber-Brautpaar, Ihr Bruder Moses Adolf Rosenbach und seine Frau Ella, rechts neben ihr. Sitzend neben Lennhoffs die Töchter Paula und Selma. Privatarchiv S. Sasso

⇒ Biografie Emma Rosenbach